Wir drei by De Carlo Andrea

Wir drei by De Carlo Andrea

Autor:De Carlo, Andrea [De Carlo, Andrea]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60168-8
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


[352] Zehn

Misias Wohnung in Paris war klein und chaotisch, mit einem krummen Korridor und großen Fenstern auf einen Hof, von dem milchig graues Licht hereinfiel. Die Unordnung darin glich der, die ich in Zürich gesehen hatte: Kleider und Bücher und Fotos und Teller und Gläser und Spielzeug überall auf dem Fußboden und auf den Stühlen und Sesseln. Misia lief herum und machte Schubladen und Schranktüren auf, zog ohne jede Geduld Kleider und Zeug heraus, warf einiges davon in den offenen Koffer, der für über einen Monat in Kolumbien reichen mußte, ließ den Rest fallen, wo sie gerade stand. Ich sah die Röcke und Blusen und Höschen und Büstenhalter, die sie in die Hände nahm, und jedes einzelne Stück zusammengenähter Stoff versetzte mir einen kleinen Stich der Rührung, wenn ich daran dachte, wie es sie in der Vergangenheit begleitet hatte, und einen kleinen Stich der Eifersucht, wenn ich an die nächste Zukunft dachte. Ich kam mir wie eine Art perverser Fetischist vor; ich zwang mich, an eins der Fenster zu treten und meinen Blick auf dem Hofpflaster zu neutralisieren. Misia konnte die Hälfte der Sachen, die sie brauchte, nicht finden, und der Wagen der Crew sollte sie schon in einer halben Stunde abholen, und sie mußte mir auch noch eine Reihe Erläuterungen zum Funktionieren des Kleinen und der Wohnung geben. In der Stereoanlage lief eine Platte [353] von John Mayall: Mundharmonika und E-Piano und Baß, pentatonische Tonleitern auf der E-Gitarre, durch die Misia hindurchschreien mußte, damit ich sie hören konnte. Dann hatte es schon zum dritten Mal an der Gegensprechanlage geklingelt, und Misia hatte mit Mühe ihren Koffer zugemacht, und ich hatte ihn zur Tür geschleppt, und sie hatte sich vom jungen Livio verabschiedet, und der junge Livio hatte wie verrückt geweint und geschrien, Misia war zögernd und verzweifelt die Treppe hinuntergegangen, und er hatte versucht, ihr nachzulaufen, und ich hatte ihr schon gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, und das Kind schon auf den Arm genommen und war wieder nach oben gegangen, die Haustür war schon ins Schloß gefallen, und Misia war fort, abgefahren.

Als der junge Livio zu weinen aufhörte, gingen wir durch die mit Spuren von Misia übersäte Wohnung, sahen uns an, beide mit der gleichen Angst angesichts sich auflösender Bezugspunkte. Ich drehte die Musik noch lauter, aber anstatt den Raum auszufüllen, ließ sie ihn noch leerer erscheinen; ich schaltete die Stereoanlage aus, las dem Kleinen die Liste der für ihn in Frage kommenden Gerichte vor, die Misia in verschiedenen Farben auf ein großes Blatt geschrieben und in der Küche aufgehängt hatte, und mußte selbst weinen, sosehr ich mich auch bemühte, in lustigem Ton zu lesen.

Es war ein seltsames Zusammenleben, aber viel natürlicher, als ich es mir vorgestellt hätte, wenn in meinem Kopf Raum für solche Vorstellungen gewesen wäre. Der junge Livio war zeitweise völlig autonom, saß stundenlang in seinem [354] Zimmer auf dem Boden und blätterte in Bilderbüchern oder setzte aus Plastikbausteinen komplizierte Konstruktionen zusammen, während ich im Wohnzimmer malte; nur wenn ich hin und wieder zu



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